Meine Zeit als Pfarrer von Tagmersheim
34 Jahre, von 1945 - 1979, war Max Stengl Pfarrer in Tagmersheim, Während dieser Zeit setzte er seine ganze Kraft ein für die Seelen der Menschen und erwarb sich große Verdienste als Kenner der heimatlichen Geschichte.
In seinen Erinnerungen erzählt er:
1. Meine Ernennung zum Pfarrer
Am 25. Juli 1945, dem Fest des hl. Jakobus, ernannte mich der Bischof von Eichstätt zum Pfarrer von Tagmersheim. Seit Generationen war ich der jüngste in der Diözese. Vorher war ich Kaplan an der Kloster- und Pfarrkirche zu St. Walburg in Eichstätt. Eigentlich wollte ich gar nicht nach Tagmersheim. Ich hatte kein Geld, um einen eigenen Hausstand zu errichten. Im Alter von 30 Jahren fühlte ich mich auch zu jung, um den Dienst eines Pfarrers zu übernehmen. Zu jener Zeit dachte man nämlich über Alter und Lebensreife anders als heute. Ich muss da immer an einen alten Mann denken, der in einem Dorfe nahe meiner Heimat lebte. Er war 103 Jahre alt. Über seinen Sohn, der im 75. Lebensjahr stand, behauptete er stets: "Mein Junger taugt nichts!"
Mein Onkel war damals Pfarrer in Wachenzell bei Eichstätt. Er ließ mich ans Telefon holen und sagte: "Als Pfarrer bist du doch dein eigener Herr." Er gab mir den Rat, nach Tagmersheim zu gehen. Weil ich keinerlei Möbel besaß, schenkte mir der Onkel einen alten Schrank, eine Bettstelle und ein Nachtkästchen.
Die Rosi, eine Magd in Wachenzell, brachte dieses "Mobiliar" mit einem "Gäuwägl" nach Eichstätt. Später sagte sie einmal zu mir: "Das muss ich Ihnen heute noch sagen, ich habe mich geschämt, als ich mit diesem alten Gerumpel übers Land und durch die Stadt fuhr."
2. Der Umzug nach Tagmersheim
In Eichstätt bereitete ich meinen Umzug vor. Folgende Gegenstände gehörten zu meinem künftigen Haushalt: der Schrank, die Bettstelle und das Nachtkästchen vom Onkel. Außerdem ein eisernes Bettgestell, ein großer Korb mit Wäsche und Bettzeug, 2 Kisten mit Büchern und 2 alte Matratzen. Nach Tagmersheim brachte diese ganze Ladung ein "Holzgaser". Dies war ein Lastwagen, wo in einem Kessel Holz erhitzt wurde. Dabei entstand Gas, welches den Motor antrieb.
3. Ankunft in Tagmersheim
Ich selber kam einen Tag vorher mit dem Fahrrad in Tagmersheim an. "Hätten Sie doch etwas gesagt", so begrüßte mich der damalige. Mesner, Hans Bosch, an der Pfarrkirche, "ich hätte Sie doch hereingeläutet." Mit der einzigen Glocke wohlgemerkt, die damals am Kirchturm noch vorhanden war.
Interessant waren meine ersten Entdeckungen im eigentlichen "Pfarramt". Der obere Gang war mit dicken Solnhofer Platten belegt. Wenn man darüber ging, schwankte der Boden unter der Last und die alten Schränke zu beiden Seiten ächzten. Auf der linken Seite stand ein hohes, wurmstichiges, offenes Regal. Darin lagen die verstaubten Akten des Archivs. Wenn ich abends immer vorüberging in mein Schlafzimmer, hatte ich ehrliche Angst bei dem Ächzen in den Räumen, dieses ganze Gebäude könnte auf mich herabstürzen.
Schreinermeister, Hubert Heckl, erklärte sich bereit, mir ein Amtszimmer anzufertigen. Sattler Hofmeier von Rögling hat die Stühle mit Leder überzogen und zwar gratis. Alles ist noch gut erhalten.
4. Eine herzliche Begrüßung
Wie ich als neuer Pfarrer von Tagmersheim die erste Wochenmesse halten wollte, da wartete vor der Kirche freudestrahlend ein altes Mütterlein auf mich. Sie ging auf mich zu, fasste mit beiden Händen meine rechte Hand, schüttelte sie herzlich und sagte in freundlichen Worten: "Wir wünschen Ihnen viel Gesundheit, dass es Ihnen bei uns recht gefällt und dass Sie lange bei uns bleiben!" Dieses Erlebnis ist auch heute noch eine der beglückendsten Erfahrungen der letzten 30 Jahre. Wie diese Frau aus sich heraustrat, das geschah so herzhaft, mit so viel Liebe und Ermutigung, als hätte sie etwas prophetisch geahnt, was auf diesen noch jungen Priester zukommen wird.
Am folgenden Sonntag war die eigentliche Begrüßung des Pfarrers. Wenn damals im Pfarrhof ein Fest gefeiert werden musste, dann gingen die Männer der Kirchenverwaltung mit Körben durch das Dorf, um Fleisch, Eier, Mehl und Schmalz zu sammeln, damit die Gäste versorgt werden konnten. Beim Begrüßungsgottesdienst war die Kirche dicht gefüllt mit Gläubigen, obwohl fast in jedem Haus ein Vater oder ein Sohn gefallen oder vermisst oder noch in Gefangenschaft war. Das lag wie ein Alpdruck auf dem ganzen Dorf. Deshalb konnte keine so rechte Stimmung aufkommen.
5. Wie die Amtseinführung unterschrieben wurde
Nach dem Gottesdienst musste das Protokoll über die Amtseinführung unterschrieben werden. Der Patronatsherr, Eberhard Karl von Moy, der Dekan und die Kirchenverwaltung kamen ins Pfarrhaus. Als wir das Amtszimmer betraten - es war geradezu komisch - fand sich darin weder Tisch noch Stuhl. Die Herren von der Kirchenverwaltung mussten erst diese Stücke herbeischaffen. Das Protokoll selber stand auf einem Stück Papier, das der Dekan aus einem Kalender oder Kassenbuch herausgeschnitten hatte. Als er sich später verabschiedete, meinte er: "Jetzt schau halt, wie du zurechtkommst!"
6. Die "Ernennung" zum Schulleiter
Nach dem Krieg bat der Bischof seine Priester, sie mochten an solchen Orten, wo kein Lehrer da war, den Unterricht übernehmen. So eröffnete ich am 17. September 1945 die Schule in Tagmersheim. Ich unterrichtete in 2 Abteilungen, vormittags die 5. - 8. Klasse, nachmittags die 2. - 4. Klasse. Die erste Klasse wurde vorerst nicht eingeschult. Die meisten Kinder schrieben noch auf ihre Schiefertafeln. Als Lesebücher benutzten wir den Katechismus und die Bibel. Damals habe ich auch begonnen, die Heimatgeschichte zu erforschen.
Einige Wochen nach Schulbeginn begegnete ich auf der Reichsstraße in Donauwörth dem Schulrat. Ich brachte gleich mein Anliegen vor, ich hätte die Schule angefangen und könnte zwei Abteilungen nicht allein weiterführen. Der Schulrat meinte: "Ihr Pfarrer müsst in dieser Zeit auch mehr tun als eure Seelsorgearbeit, ihr müsst uns helfen:" Und dann schloss er mich auf der Straße - Autos kamen damals gewöhnlich keine - in seine Arme und rief aus: "Hiermit mache ich Sie zum Schulleiter von Tagmersheim:"
Bald darauf kam eine "Schulhelferin" und am 1. April 1946 ein Lehrer. Unvergesslich klingt in meinen Ohren, wie die Mädchen um den Ofen herum in der Pause ewig das Spiel sangen: "Ringlein, Ringlein, du musst wandern, von der einen Hand zur ändern..."
7. Als die Heimatvertriebenen kamen
Ein halbes Jahr später, nachdem ich in dieser Armut in das Pfarrhaus eingezogen war, kamen die Heimatvertriebenen zu uns. Sie hatten keinen alten Schrank. Sie saßen draußen am Straßenrand auf ihren Kisten, Koffern und Schachteln, Ihre ganze Habe! Sie warteten darauf, in welchen Winkel sie gestoßen und wie sie von ihren Hausgenossen aufgenommen würden. Wir werden nie nachfühlen können, was sie empfunden haben, als sie heimat- und mittellos mit Kind und Kegel auf die (Un)-Barmherzigkeit fremder Menschen warteten.
Die Heimatvertriebenen besaßen viel Humor und musische Begabung. Sie bereicherten das Leben des Dorfes mit viel Gesang, Theater und Gemeinschaftsveranstaltungen. Die Einwohnerzahl des Dorfes stieg damals von etwa 600 auf 1 000.
8. Warum ich in Tagmersheim blieb
Am 9. Juni 1949 war In Tagmersheim Firmung. Das war der erste große Festtag des Ortes nach dem Kriege. An jenem Nachmittag ging ich mit dem Bischof durch die Kirche, um sie etwas näher anzusehen. Dabei fragte er mich: "Wie lange wollen Sie eigentlich in Tagmersheim bleiben?" - "Eigentlich noch ein Jahr." Fünf Jahre hatte ich eingeplant. Nach einigem Zögern antwortete er: "Sie können doch nicht weggehen, ohne diese Kirche zu restaurieren; das müssen Sie schon machen!" - So begann ich jetzt zu planen. Dies wurde mein Schicksal.
9. Die Neugestaltung der Pfarrkirche
In den folgenden Jahren setzte ich mich besonders für die Neugestaltung der Pfarrkirche ein. Das Gotteshaus wurde außen zweimal renoviert und der Innenraum mit Mosaiken und Buntglasfenstern ausgestattet.
Mit Unterstützung der Gemeinde konnte ich die ehemalige Pestalozzi-Gruft als Leichenhaus umbauen. Der Friedhof wurde erweitert und das Pfarrhaus dreimal renoviert. Die Verwirklichung all dieser Arbeiten erstreckte sich auf fast 20 Jahre.
10. Gründungsmitglied des Sportvereins
Ich war 1949 Gründungsmitglied des Sportvereins, war stets sein Ehrenvorsitzender und habe ihn wiederholt vom Zerfall gerettet. Wie wichtig war diese Gründung in der Zeit der Arbeitslosigkeit der 40er Jahre: Wie mühsam war es damals, einen Ball zu bekommen, von Kleidung nicht zu reden! Mit Hilfe von mächtigen Planierungsraupen der amerikanischen Armee wurde aus einem Steinbruch ein Sportplatz geschaffen.
11. Aus meiner Arbeit als Seelsorger
Meine Seelsorgearbeit nahm ich ernst und habe sie nie vernachlässigt. Dabei gab es in der Gemeinde schwierige Probleme durchzustehen. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass ich in den 34 Jahren in Tagmersheim viel Vertrauen und Ansehen gewonnen habe.
Schwer war es an jedem Grabe, denn immer wieder empfindet man beim Tode eines Menschen, man gibt ihn weg, "als wärs ein Stück von mir".
12. Sonstige Tätigkeiten
Nach dem Krieg habe ich in den vielen aufgerissenen Steinbrüchen so genannte Leitfossilien gesammelt. So konnte ich mithelfen, die Tagmersheimer Gesteinsschichten des Jura wissenschaftlich zu erforschen.
Ich habe bei der Gestaltung des neuen Tagmersheimer Gemeindewappens mitgeholfen, Entwürfe für die Bürgermeisterkette erarbeitet und die zugehörige Pergamenturkunde verfasst.
In meinen schlaflosen Nächten habe ich historische Forschungen betrieben. So konnte ich die Fragen um die beiden Tagmersheimer Schlösser lösen. Ich habe die Reste der Wasserburg auf eigene Kosten erforscht, als das Landratsamt seine Hilfe versagte. Ich habe aufgezeichnet, wie die Wasserburg und der steinerne Galgen ausgesehen haben.
Ich konnte aufgrund meines geschichtlichen Wissens um Ort und Hofmark Tagmersheim in wenigen Tagen jenes Büchlein schreiben "Tagmersheim - ein Dorf und eine Hofmark in der Monheimer Alb". Diese Büchlein ging als Musterbeispiel an alle landwirtschaftlichen Behörden des europäischen Raumes.
13. Vom Wandel der letzten 30 Jahre
Ich habe in Tagmersheim den Wandel eines Juradorfes miterlebt: einst grundlose Wege im Spätherbst und Frühjahr, mit dem einsetzenden Autoverkehr Staubwolken auf Gärten und Dächern und heute die modernen Teerstraßen. Was hat sich seitdem alles geändert!
Durch meine Kenntnisse konnte Ich die geschichtlichen Straßennamen in Tagmersheim vorschlagen. Sie sind eine Erinnerung an die bedeutende Vergangenheit des Ortes.
Als Anerkennung seiner Verdienste ernannte die Gemeinde Tagmersheim Pfarrer Max Stengl zu ihrem Ehrenbürger.
Am Ostermontag des Jahres 1979 erlitt Pfarrer Max Stengl einen Herzanfall. Daraufhin zog er fort nach Daßwang.
Am 19. August 1981 starb er. Pfarrer Max Stengl würde in Seligenstadt, seinem Geburtsort, beigesetzt.
Quelle:
Juradörfer - Eine heimatkundliche Sammlung über Tagmersheim, Blossenau und Rögling
Herausgegeben 1985 von der Gemeinde Tagmersheim
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